Ein Leben besteht aus unendlich vielen wunderschönen Momenten, welche aufgesogen und ins Herz geschlossen werden sollten, denn so schnell können sie vorbei sein. Ich setzte mich mit diversen Textgattungen aus den Genres Epik, Lyrik und Dramatik auseinander und kreierten meine eigene Welt… Welche Welt bei mir entstanden ist und ob sich Max an all die schönen Erinnerungen erinnern und seine Trauer überwinden kann?
Eine Kurzgeschichte zum Thema «Anderssein».
Kompetenzen: Text, Skizzen
Jahr: 2021
DAS FLECKCHEN FRIEDEN AUF ERDEN
Es war dieser Moment des Innehaltens. Ein Moment des Entspannens, Sichgehenlassen, Tiefdurchatmen und Zurruhekommen. Die Muskeln fingen an, sich zu entspannen, das Herz klopfte immer langsamer und der Atem wurde ruhiger. Die leichte Brise wehte durch seine grauen, fein gekrausten Haare und die Augen verformten sich zu einem dünnen Schlitz, um der Sonne ein wenig entgegenzusehen. Das Wippen der Hängematte liess ein regelmässiges Knarren der alten, verrosteten Ringe entstehen und die regelmässigen Auf-und-ab-Bewegungen wogen den Körper wie ein Baby in den sanften Schlaf. Die Grillen zirpten in einem mehrstimmigen Orchester und die Vögel zwitscherten in die kleinen Pausen des Grillenorchesters. Der Geruch der frisch erblühten Blumen des alten Apfelbaumes mischte sich mit dem Duft der Gräser auf der Wiese, welche von Bienen liebevoll angeflogen und bestäubt wurden. Das warme Licht der Sonne spiegelte das kräftige Dunkelrot der Hängematte im Weinglas auf dem alten Holzstuhl.
Max‘ Grossvater war ein begnadeter Schreiner gewesen und nutzte jede freie Minute, um seiner Leidenschaft freien Lauf zu lassen. Er sagte immer: «Was gibt es Schöneres als das breite Grinsen meines Enkels beim Überreichen einer neuen Kreation.» Ein Schmetterling flatterte an Max‘ Gesicht vorbei und ab und zu flog ein verblühtes Blatt von der grossen Linde an ihm zu Boden. Es war ein Fleckchen Frieden auf Erden – ihr Fleckchen Frieden auf Erden.
In solchen Momenten der Stille schweifte Max häufig in die früheren Zeiten zurück: Es war mitten im Zweiten Weltkrieg, als er und seine geliebte Marie in dieses Stück Frieden auf Erden zogen. «Es waren unsere glücklichsten Jahre», erzählte er immer wieder gerne seinen Freunden und langjährigen Nachbarn. Besonders in Momenten wie diesen, in der er seinen geliebten und ständig neu bepflanzten Garten in seiner dunkelroten Hängematte geniessen durfte, dachte er an seine Jugendzeit und das Kennenlernen seiner Marie. Es war dieser eine Moment im Supermarkt neben der alten Zigarrenfabrik, der sein Leben veränderte. Als wäre es gestern gewesen, sah er Marie vor seinen Augen: Sie trug ihr hellblaues Kleid mit den feinen weissen Pünktchen und ihren schwarzen Schnürhalbschuhen, dessen lederne Flügelklappen im schwachen Licht des Supermarktes glänzten. Die Haare hatte sie tief in den Nacken gezogen und eine nach oben eingeschlagene Olympiarolle liess ihre Augen strahlen. Maries Eleganz in ihren Bewegungen und ihre Ausstrahlung faszinierten ihn von Anfang an. Als er ihr schmales Gesicht mit den gepflegten Lippen und den dunkelbraunen Augen sah, wusste er, dass sie seine Frau werden sollte. Und so sollte es kommen: Keine drei Jahre später heirateten sie und kauften sich das Fleckchen Frieden am Ende des Dorfes.
Max‘ Gedanken schweiften zu den warmen Sommerabenden bei einem Glas Wein in ihrer dunkelroten Hängematte hinüber, dem Nacktbaden im See, den Besuchen ihrer Freunde und Familie, dem Picknicken draussen auf den Feldern und der Zweisamkeit, welche sie während den letzten Sonnenstrahlen des Tages genossen. Max wurde es warm ums Herz und eine Wehmut machte sich in ihm breit. Wieso musste der Krieg bloss dazwischenfunken? Es war doch so perfekt. Es schauderte ihn und seine feinen Körperhaare an Armen und Beinen begannen sich aufzustellen.
Sofort hörte er die ersten Artillerie-Geschosse in seinen Gedanken, welche wenige Jahre nach ihrer Hochzeit kilometerweit zu hören waren. Marie wurde damals aufgerufen, im Krieg die Verwundeten zu versorgen. Sie arbeitete bereits in ihren jungen Jahren als Pflegerin und kümmerte sich gerne um hilfsbedürftige Menschen. Doch nun musste ausgerechnet Marie sich inmitten des Kriegsgebietes um die verstümmelten Beine, abgerissenen Arme und offenen Gesichter der Soldaten kümmern. Es hätte tausende andere Frauen gegeben, doch es musste seine Marie sein!
Langsam spürte Max‘, wie sich seine Augen allmählich mit Wasser füllten und der bekannte Schmerz von Trauer, Angst und Trennung in ihm aufkam. Eine Träne floss an seiner aufgewärmten Wange hinunter und landete geräuschlos auf der Hängematte. Damals verging kein Tag, an dem er nicht an seine geliebte Marie dachte. Regelmässig schickte ihr Max Briefe zu und sehnte sich nach den warmen Feierabenden.
Auch jetzt, in diesen Sekunden, sehnte er sich so sehr nach seiner Frau, ihrem sanften Lächeln und dem hellblauen Kleid mit den weissen Pünktchen. Erneut spürte er, wie eine Träne an seinem Gesicht runter kullerte und sich sein Körper zusammenzog. Niemals würde er sie und ihre gemeinsame Zeit vergessen. Doch tief in seinem Herzen spürte er, dass sie nun ihr eigenes Fleckchen Friede gefunden hatte und er sie eines Tages wiedersehen wird.