Poetry Slam – Ein Leben in Gülle und Fülle

Ein Leben in Gülle und Fülle

Poetry Slam – Ein Leben in Gülle und Fülle

Unzählige Vorurteile, persönliche Erlebnisse, Anekdoten und Eindrücke sprudeln in meinen Kopf, wenn ich «Schlossrued» höre. Wie verpacke ich jene Sachen besser, als in einem Poetry Slam?!

Und so entstand er: der unverblümte, ehrliche, offene, positive und mit persönlichen Einblicken gefüllte Poetry Slam für mein Heimatdorf Schlossrued. Have fun!

Kompetenzen: Text

Jahr: 2021

EIN LEBEN IN GÜLLE UND FÜLLE 

Die ersten zwei Jahre meines Lebens hatte ich das Privileg, in Schöftland geboren und gelebt zu haben. Doch dieses Privileg weilte nur von kurzer Dauer. Bereits mit drei Jahren änderten sich die Umstände: Wir zogen aufs Land, in ein kleines Dorf. Von all diesen Eindrücken, Erlebnissen, Angewohnheiten und Vorurteilen möchte ich euch nun berichten: 

Ich wusste stets, wenns nach Hause geht. Hört man allmählich die Vögel zwitschert, die Traktoren surren und die Bauern murren, kommen wir dem Storchenhof näher. Riecht man mehr und mehr den Geruch von frischem Gras, Blumen und Gülle, ist es nicht weit zur heimlichen Idylle. Schlossrued wird es genannt, sowie als «Aargauer Emmental» bekannt. Zwischen Hügeln eingepfercht lebe ich hier auf 500m über Meer, mit den Einwohnerzahlen ein ständiges hin und her. Die Tausender-Grenze wurde noch nie erreicht – doch aller Anfang ist schwer. Wir sind bereits bei eins unter Tausend, als der Gemeinderat schreibt: «Mist! Wir haben die Kühe mit eingeteilt.»

So ist es halt, ein Leben in Gülle und Fülle.

Geld für den Streichelzoo brauchen wir keins, denn Tiere haben wir wie Fans eines Fussballvereins. Ob Kühe, Ziegen, Katzen oder Hühner, wir haben sie stets in Küche und Keller. So wird die Ziegensuche stets der Gemeinde übergeben, während wir die Essensreste nachhaltig den Schweinen vergeben. Die Kühe sammeln sich gut und gerne als gesamte Herde auf den Hausterrassen. Niemals werde ich sie vergessen, die braunen Terrassen, bei denen nicht mal der Kärcher geholfen hat, die Scheisshaufen verschwinden zu lassen. 

So ist es halt, ein Leben in Gülle und Fülle.

High Heels oder Gummistiefel, Clubfeeling oder Scheunenziegel, bei Nacht und Nebel, bei Wind und Wetter… unsere Partys werden weder wanken noch weichen. Bei uns tanzt man zu Helene Fischer und singt lauthals mit dem Scheunen-Mischer. Die Outfits der Männer? Der letzte Schrei! Sie tragen Karohemden, Appenzeller Kuhgurte, Wanderschuhe und das i-Tüpfelchen klipp und klar die Zipfelmütz’. In der Liebe scheint «veni, vidi, vici» das Motto zu sein: Gerne amüsieren sie sich mit Wildfremden, denn in Schlossrued sind viele Hunziker und Neeser bekannt und sicherlich einige untereinander verwandt. Bier und Schnupf ist hier für Mann, Frau, Kind und Kegel: «Isst der Bauer abends Schinken, tut die Sau am Morgen hinken! Priiis!» Will man später zu Hause übernachten, muss man bereits um neun die Heimreise als nötig erachten. Der Alkohol wird dadurch selten ein Problem, denn bis zur Haustür ist dieser bereits bei null Promille. 

So ist es halt, ein Leben in Gülle und Fülle.

Busfahrten sind relativ schnell zu checken, es gibt ja bloss vier Zeiten zu merken. Während solchen wird nicht lange gezaudert und lauthals über Liebeleien geplaudert. Die Spitznamen sind allen bekannt und solche Liebesgeschichten sehr amüsant. Stellt man also die Kopfhörer auf stumm, kommt man um Klatsch und Tratsch nicht herum. Geheimnisbrüche und Gerüchteküche sind in Schlossrued weder Fremdwort noch Seltenheit. Neue Einwohner werden in Charakterstufen erdacht und jedes neue Auto zum Thema gemacht. Baukörperaussteckungen führen innert Minuten Krethi und Plethi zu den Nachbarn. Denn hier braucht es schnell eine Versammlung im Garten, um gleich gegen das Baugesuch einen Einspruch zu starten. Eskaliert es schlussendlich unanständig, ist sicher jemand bei der freiwilligen Feuerwehr tätig. «Was dieser heute baut, reisst jener morgen ein», denn wo jetzt eine Wiese steht, soll morgen keine Stadt sein.

So ist es halt, ein Leben in Gülle und Fülle.

Schlossrued lebt nach dem Minimal-Prinzip: Wir haben bloss einen kleinen Volg, dies aber mit vollem Erfolg. Es ist die «Chäsi» von Trudi Tanner, die uns mit Rat und Tat zur Seite steht und in Notfällen stets Speis und Trank gewährt. Wenn die Schlossrueder mal wieder etwas sparen, kann man die Sachen auch später noch bezahlen. Trudi weiss stets, was wir brauchen und greift bereits beim Eintritt das richtige Pack zum Rauchen. Nach dem Minimal-Prinzip lebt auch unser Handy-Empfang… diesmal jedoch ohne Erfolg: Während Swisscom den Anschluss in die kleine Welt gefunden hat, steckt Salt noch immer im Funkloch fest. Startet jedoch die Sammlung einer Salt-Antenne, beginnt erst recht das grosse Geflenne. Die Bewohner sind nämlich nicht Feuer und Flamme, dass drahtloser Internetanschluss die Gesundheit ihrer Kinder gefährde. So werden wir wohl weiterhin den Hotspot gebrauchen, um ungestört in Netflix einzutauchen. 

So ist es halt, ein Leben in Gülle und Fülle.

Trotz der abgelegenen Lage mangelt es weder an Events noch an Angeboten. Die grössten Events sind definitiv die Turnerabend-Weekends. Ist dieser Abend dran, haben die Männer garantiert nur wenig an. Sie tanzen im Rampenlicht und bewegen ihre Hüften. Ja, es klingt nach Magic Mike – nur dass hier das Sixpack 8.50.- kostet und nach Hopfen & Gerstenmalz schmeckt. Schlussendlich ist weniger eben mehr… Ist man jedenfalls im Turnverein nicht dabei, kann es sehr schnell einsam sein.

 

Seit letztem Jahr haben wir auf jeden Fall an Bekanntheit erlangt, denn das neu renovierte Schloss wird von Bräuten regelrecht überrannt. Ausgebucht ist es in den nächsten zwei Jahren jedes Wochenend‘, denn nur der frühe Vogel fängt den Wurm. Nicht nur jeder Hans findet hier seine Grete, auch die vielen Jahrmärkte bieten für jede Saison den passenden Topf zum Deckel: Ostermärkte im Frühling, Kirschmärkte im Sommer, Apfelmärkte im Herbst und Weihnachtsmärkte im Winter. Auch wenn die 1. August-Feier auf dem Haberberg stresst, ist es schliesslich ein Familienfest. Ist man also nicht aufgetaucht, wird man später sicherlich angefaucht. 

So ist es halt, ein Leben in Gülle und Fülle.

Es ist kein offenes Geheimnis, dass Schlossrued als Kaff gilt und von vielen mit Vorurteilen behaftet ist. Doch ein Familienfest bringt es ziemlich gut auf den Punkt. Trotz der abgelegenen Lage, der begrenzten Anzahl an Shopping-Möglichkeiten, Freizeitaktivitäten und nicht ganz so optimalen Verkehrsanbindungen, ist Schlossrued ein Paradies, um aufzuwachsen und seine Kindheit zu verbringen. Man wird erkannt, man wird vermisst und in die Leben der Nachbarn miteinbezogen. Es war eine wunderschöne Zeit, an die ich gerne zurückdenken werde.